Statusbericht 1/24 - Wie geht es unseren Jungvögeln nach den ersten zwei Wochen in der Auswilderungsnische?

Gute Entwicklung der beiden - Wiggerl ohne Probleme nach seinem Sturz

Vinzenz und Wiggerl | © Screenshot LBV Bartgeierwebcam © Screenshot LBV Bartgeierwebcam
Vinzenz (links) und Wiggerl treffen direkt vor der Webcam 2 aufeinander.

Ein wichtiger Bestandteil des Auswilderungsprojekts ist das lückenlose Monitoring vor Ort. Hierbei werden die ausgewilderten Jungvögel rund um die Uhr beobachtet und sämtliche Aktivitäten nach einem international standardisierten Aufnahmeprotokoll aufgenommen. So kann die Entwicklung und das Verhalten begleitet und dokumentiert werden. Dadurch können etwaigen Fehlentwicklungen entgegengewirkt und Probleme frühzeitig erkannt werden.

Unsere Beobachtungen wollen wir natürlich auch mit Euch teilen und werden in loser Folge neue Informationen an dieser Stelle veröffentlichen.

Die ersten zwei Wochen waren geprägt von nassen Bedingungen

Niederschlagssummen in den letzten zwei Wochen  |© wetterkontor.de © wetterkontor.de
Die Niederschläge für Berchtesgaden von Ende Mai bis zur zweiten Juniwoche. Mit den Bedingungen am Auswilderungstag hatten wir wirklich Glück.

Nun leben unsere beiden jungen Bartgeiermännchen tatsächlich schon zwei Wochen in ihrer Felsnische im Nationalpark Berchtesgaden und es ist endlich Zeit für ein kleines Fazit.

Grundsätzlich: Die beiden entwickeln sich großartig und es geht ihnen sehr gut.
Auch der teilweise sintflutartige Dauerregen scheint ihnen nicht übermäßig viel auszumachen, wenngleich es natürlich Einfluss auf die Aktivitätsphasen der beiden hat. Aber Bartgeier kommen problemlos mit den Temperaturen zurecht. Das Konturgefieder lässt einen Großteil des Wassers abperlen und das wolleartige Dunenkleid hält sie gut warm.

Zwangsläufig werden wir immer wieder darauf zurückkommen, ihr Verhalten mit demjenigen unserer früheren Schützlinge zu vergleichen. Mögliche Parallelen sowie Unterschiede können dadurch besser erkannt und beurteilt werden.

 

 

Nahrungsaufnahme: Gut und reichlich

Die beiden haben einen großen Appetit und verbringen einige Zeit damit zu fressen und die Nahrung zu bearbeiten. Dabei kommen den beiden die hervorragenden Anpassungen der Bartgeier zur Aufnahme dieser Nahrung zugute. Sie üben auch fleißig den Einsatz ihres Schnabels, als wichtiges Werkzeug zum Zerkleinern und Bearbeiten der Nahrungsstücke.  Die beiden nehmen derzeit mehr Nahrung als ein erwachsener Bartgeier zu sich.

Wie auch in den letzten Jahren sorgen wir dafür, dass immer ausreichend Nahrung in der Nische ist, damit dieser Konkurrenzfaktor keine Rolle spielt.

Auch die Ausscheidungen werden sehr regelmäßig ausgestoßen – übrigens dem angeborenen Verhalten nach meist in Richtung Nischenausgang. Dadurch haben sich in manchen Bereichen (auch schon durch dasselbe Verhalten in den Vorjahren) gut sichtbare, weißliche Stellen gebildet.

 

 

Interaktionen: Nahezu geräuschlos und von niedriger bis moderater Intensität

Wiggerl und Vinzenz |© Screenshot LBV Bartgeierwebcam © Screenshot LBV Bartgeierwebcam
Vinzenz ist meist der Verursacher aggressiver Interaktionen, die allerdings meist von niedriger Intensität geprägt sind.

Bei den Interaktionen der beiden fallen einige markante Unterschiede zu den Vorjahren auf. Am deutlichsten scheint hierbei die geringe Anzahl an Lautäußerungen der beiden zu sein. Vor allem im Vergleich zur ersten Auswilderung mit Wally und Bavaria  könnte das heuer kaum unterschiedlicher sein.

Aber auch bei Dagmar und Recka kam es in häufigerer Zahl zu im Vergleich heftigeren Konfrontationen und das Dominanzverhalten (jeweils von Bavaria gegen Wally und Recka gegen Dagmar) war jeweils sehr stark ausgeprägt.

Aber auch generell sind die Auseinandersetzungen der beiden zu Beginn v.a. im Vergleich zu den ersten beiden Jahren weniger häufig und von geringerer Intensität. Überwiegend gehen die Konfrontationen und Annäherungen von Vinzenz aus. Wiggerl zieht sich meist sofort zurück und weicht der Konfrontation überwiegend aus. Vereinzelt zeigt er jedoch auch ein Abwehrverhalten. Manchmal lassen beide jedoch auch körperliche Nähe zu, ohne das ein Übergriff stattfindet.

Alles in allem handelt es sich um ein recht moderates Verhalten zweier Jungvögel untereinander, vor allem im Vergleich mit den ersten beiden Projektjahren.

Den Erfahrungen aus den Vorjahren nach, wird es sich mit zunehmender Zeit auch bei den beiden noch mehr einspielen.

Die Größe der Nische und die ausreichende Nahrungsversorgung sind zwei Schlüsselgrößen, die sich ganz allgemein positiv auf die Beziehungen auswirken dürften.

Training der Flugmuskulatur: Vinzenz legt vor - beide zeigen eine gute Entwicklung

Flügelschlagvergleich |© D. Schuhwerk, LBV © D. Schuhwerk, LBV

Beide starteten anfangs verhalten mit dem notwendigen Training der Flügelmuskulatur. Es zeichneten sich aber schon relativ bald höhere Maximalwerte bei Vinzenz ab. Auffällig sind bei ihm jedoch die starken Tagesschwankungen. Mit 304 Schlägen an einem Tag innerhalb der ersten Woche überholte er sogar die bisherige Spitzenreiterin Recka, die damals nach 4 Tagen stolze 262 mit den Flügeln schlug.

Wiggerl steigert sich kontinuierlich, sein Training ist stetiger und weniger solch starken Schwankungen unterworfen. In der Summe liegt er bis zum hier dargestellten Zähltag 450 Schläge hinter Vinzenz zurück.  

Auch bei der Anzahl der Flügelschläge am Stück hat Vinzenz meist die Nase vorn.

Alles in allem zeigen die beiden die gewünschte, gute Entwicklung.

Wie schon öfter an dieser Stelle beschrieben, probieren die Jungvögel im Durchschnitt einen ersten Flugversuch im Alter von 120 Tagen. Heute sind die beiden nach unserer Zählweise XXX Tage alt.

(Nachtrag: Es kam nach Erstellung des Textes noch die Information vom Monitoring Team, dass Vinzenz inzwischen schon einen Tag mit 472 Schlägen und dabei mehr als 50 am Stück hatte).

 

 

Komfortverhalten: Häufig und anhaltend

Wiggerl putzt sich |© David Schuhwerk, LBV © David Schuhwerk, LBV
Wiggerl bei der Gefiederpflege aus der Sicht des Monitoringteams

Unter Komfortverhalten versteht man sämtliche Tätigkeiten, die der Körperpflege zugeordnet werden können. Dies ist auch meist ein guter Indikator für die Gesundheit und das Wohlbefinden der Tiere. Die beiden erledigen das sehr gründlich und intensiv. Dazu gehört ein ausschweifendes Durchkämmen des Brustgefieders oder auch ein Kratzen an den Ansätzen der Schwungfedern, die durch teilweise nur durch artistische Verrenkungen erreicht werden. Das war in den vorangegangenen Jahren auch schon so, hat also nicht unbedingt etwas mit der feuchten Witterung zu tun.

 

 

Wasserstelle: Wurde heuer schon sehr früh genutzt

Die Wasserstelle, die wir im letzten Jahr durch ein kleines Becken stabilisiert hatten, wurde schon recht bald entdeckt. Vinzenz nahm schon am zweiten Tag sichtlich genießend ein Bad, so schnell hat das vor ihm noch keiner der anderen ausprobiert. Aber auch Wiggerl hat sich nach einer Woche schon mal hineingetraut.  

Die letzten Tage über wurde die Wasserstelle eher selten aufgesucht, was sicher auch an aktuell vorherrschenden „nassen“ Bedingungen lag. Aber erst heute hat Vinzenz wieder ein ausgiebiges Bad genommen und es sichtlich genossen.

(An anderer Stelle hatten wir schon einmal erklärt, dass das Wasserbecken ein „luxuriöses Extra“ darstellt, in freier Natur im Horstbereich so gut wie nie vorkommt und aufgrund des Fleischanteils an den Knochen auch bei hohen Temperaturen genügend Wasser zugeführt wird).

Weitere Beschäftigungen, Bewegungen und Aktivitäten

Neben den bereits genannten hauptsächlichen Aktivitäten bleibt aber natürlich auch noch Zeit die Nische und ihre Umgebung zu entdecken. Auch hier zeigt sich Vinzenz forscher und stieg so früh wie noch kein anderer vor ihm aus der Nische hinaus, hinab zum Eingang (und damit außerhalb des Sichtbereichs der Kameras).

Wie auch in den vergangenen Jahren liegt ein besonders gerne aufgesuchter Platz am obersten Eck des Zaunes über dem Abgrund. Die Weite dieser Stelle scheint auf die Jungvögel einen besonderen Reiz auszuüben. Hier hat man natürlich den besten Überblick und es lässt sich allerlei beobachten – soweit es die Witterungsbedingen zulassen.

Dabei werden zum Beispiel die flinken Bewegungen von Schmetterlingen und Felsenschwalben – die immer wieder durch die Nische sausen - aufmerksam beobachtet und verfolgt. Auch die Schafwolle oder Stöckchen aus dem Horst werden untersucht und teilweise verfrachtet. Die ein oder andere Pflanze wird mit dem Schnabel bearbeitet und Steine umgepflügt, die sich dann mitunter – wohl eher unabsichtlich – den Abgrund hinunter verabschieden.

Besonders Wiggerl zieht sich auch desöfteren mal in die quasi entgegengesetzte Ecke (hinter der kleinen Wasserstelle) zurück. Hier hat er nun schon mehrfach die Nacht verbracht. Wenn die Sonneneinstrahlung wieder zunimmt und die Temperaturen steigen, war das in den letzten Jahren auch vormittags schon ein beliebter Zufluchtsort, sich hier bereits am Morgen ein schattiges Plätzchen in der insgesamt ostseitig ausgerichteten Felsnische finden lässt.

Beide sitzen bzw. bewegen sich auch ausgesprochen gerne in steileren Bereichen unterhalb des Nischenplateaus.

Anders als z.B. bei Recka und Dagmar scheinen die Horste für die beiden als Schlaf- oder Ruheplatz bisher noch keinen besonderen Anklang zu finden. Außer gelegentlichem herumstochern nach Nahrung oder zupfen an der Schafswolle halten sie sich dort so gut wie gar nicht auf. (Nachtrag: Erst heute, am 14.06.24 saß Vinzenz zum ersten Mal eine ganze Weile recht entspannt im unteren Horst)

Monitoring und Infostand: Ein großartiges Team mit großem Durchhaltevermögen

Wiggerl Flugtraining |© NPV/LBV © NPV/LBV
Ein paar cm gehen schon - Wiggerl beim Flugtraining

Unsere zeitintensive Arbeit am Monitoringstand ist beinahe schon wieder der Normalzustand geworden und die Geduld wird durch die inzwischen schon langanhaltende Regenperiode durchaus auf die Probe gestellt.
Ohne das große Team, das neben den Projektmitarbeiter*innen aus vielen engagierten und motivierten Praktikant*innen, Bufdis und Ehrenamtlern besteht, wäre ein Projekt dieser Größenordnung nicht möglich. Hierbei wird täglich die Sicherheit und das Wohlergehen der Vögel überwacht und zahlreiche Verhaltensparameter aufgenommen und gesammelt.

 

 

Wiggerls kurzer, vorzeitiger „Ausflug“

Wiggerl  |© Markus Leitner © Markus Leitner
Wiggerl an der Stelle, an der er vom Rettungsteam abgeholt wurde.

Wie bei Dagmar vor zwei Jahren musste am 10. Juni ein kleines „Rettungsteam“ ausrücken und Wiggerl unterhalb der Felsnische „abholen“ und zurück in die Nische bringen. Anders als im Fall von Dagmar war sein wortwörtlicher „Ausflug“ jedoch unfreiwillig und es war auch kein solch massiver Einsatz von Klettertechnik bei der Rettung wie damals nötig: Bei einer Auseinandersetzung mit Vinzenz verlor Wiggerl das Gleichgewicht und da er sich schon am Abgrund befand, purzelte er die Steilwand hinunter.

Dank einer schnellen Rettungskette war er jedoch relativ bald wieder zurück in der Nische und hat auch keine offensichtlichen Schäden davongetragen. Das geringe Gewicht und die enorme Oberfläche der Flügel bremsen einen Sturz natürlich deutlich. Solche Fälle kommen auch in der Natur in den meist sehr viel kleineren Horsten ab und zu einmal vor. Aber auch in anderen Wiederansiedlungsprojekten kam es schon zu Stürzen aus den Auswilderungsnischen.

Solche Fälle zeigen auch die Notwendigkeit der ständigen Überwachung, damit dann so schnell als möglich eingegriffen werden und der Vogel gerettet werden kann.

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